top of page
  • AutorenbildEmanuel Grammenos

Du? Wir? Ich?

Aktualisiert: 15. Juni 2020

Oder: Ein Modell zu mehr Klarheit in Beziehungen.

Kennst Du das Problem? Du bist in einer Beziehung und weißt manchmal gar nicht mehr, wo Du aufhörst und Dein*e Partner*in anfängt? Oder Du bist in einer Familie, in der es schwierig ist zu trennen, was Deine eigenen Erwartungen sind und welche von Deinen Eltern kommen?


Ein*e Freund*in spiegelt Dir wider, dass er/sie sich oft von Dir übergangen und an den Rand gedrängt fühlt? Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer solcher Beispiele, die aber alle eines gemeinsam haben:


Eine Verwirrung des Du, des Wir und des Ich.

Wie bei den meisten philosophischen Fragen wirkt das Problem erst einmal lächerlich. Denn es ist doch klar, wer ‚Ich‘ bin und wer ‚Du‘ bist. Oder? Spätestens bei der Frage nach dem ‚Wir‘ wirst Du aber merken, dass dem nicht so ist. Stelle Dir z. B. mal folgende Situation vor. Du bist in einer Paarberatung, weil Deine Beziehung gerade vor großen Herausforderungen steht. Erst erzählt Dein*e Partner*in die Version der Geschichte (‚Du‘-Perspektive), dann erzählst Du Deine Version (‚Ich‘-Perspektive). Der Paartherapeut hört sich alles ruhig an und fragt dann Euch beide: Was sagt denn Ihr ‚Wir‘ zu diesen Problemen (‚Wir‘-Perspektive)?“.


Hmmm. Wer antwortet jetzt? Du? Dein*e Partner*in? Beide? In welcher Reihenfolge? Was, wenn Ihr euch widersprecht (was Ihr tun werdet)?


An dem Beispiel wird sichtbar, wie schwer es uns Menschen oft fällt zu wissen, wo ‚Ich‘ aufhört, ‚Du‘ anfängt und damit ein ‚Wir‘ entsteht. Aber zum Glück gibt es mannigfaltige Hilfen, die Du heranziehen kannst. Ein philosophierender Blick kann erhellend sein und vielleicht zu einer Klärung der Verhältnisse beitragen. Genau darum wird es in dieser Folge von „Alltagsphilosophische Ratschläge“ gehen.



„Du lässt immer Deine Tasse stehen!“


In den meisten Beziehungen geht es genau dann zur Sache, wenn die unterschiedlichen Vorstellungen von zwei (oder mehreren) Menschen aufeinandertreffen. Ein Klassiker sind Konflikte nach dem Zusammenziehen, über den Haushalt, über die Kindererziehung, die Teilung der Finanzen, der Arbeitszeit oder die Zufriedenheit in der Sexualität. Ich bleibe hier mal beim Zusammenziehen. Das Thema hat einen Vorteil: Es macht die Konfliktlage sehr räumlich sichtbar. Meine These ist dabei: Hinter den unterschiedlichen Vorstellungen zu Sauberkeit, Arbeitsaufteilung, Finanzen etc. stecken unklare Verteilungen und Grenzziehungen der ‚Du-‘/‚Wir-‘/‚Ich-‘Bereiche. Was das bedeutet, werde ich an einem Beispiel verdeutlichen.


Sag also Hallo zu: Marc und Natalie. Marc und Natalie sind seit drei Jahren zusammen und gerade zum ersten Mal zusammengezogen. Nachdem sich der Staub des Umzugs gelegt hat, die Einweihungsparty gefeiert ist, die Eltern zum Essen da waren und die Wohnung weitgehend in ein Heim verwandelt wurde, kehrt der sog. ‚Alltag‘ ein. Natalie und Marc fällt auf, das Zusammenwohnen funktioniert recht gut. Nur über den Haushalt streiten sie sich immer wieder. Natalie lässt gerne ihre Teetassen, Decken und Kuschelkissen auf und neben dem Sofa stehen. Marc regt es wahnsinnig auf, wenn er die Fernbedienung unter den ganzen Kissen nicht findet. – Ist ein Klischee? Stimmt, aber Du kannst gerne jeden anderen Konflikt einsetzen, den Du magst. Die beiden streiten sich auf alle Fälle oft darüber und kommen nicht wirklich weiter.


Ich mache einen Vorschlag: Zeichnet doch mal auf dem Grundriss Eurer Wohnung ein, welche Bereiche der Wohnung wem ‚gehören‘. Also anders gesagt: Was ist ein ‚Ich‘-Bereich, was ein ‚Du‘-Bereich und was ein ‚Wir‘-Bereich? Das Ganze passiert natürlich getrennt voneinander.


Natalie & Marc - Grundriss (Vorher)

Das Ergebnis dieser Zeichnung ist sehr interessant. Zunächst fällt auf, dass sowohl Natalie als auch Marc so gut wie keinen Bereich als einen ‚Ich‘-Bereich ansehen. Komischerweise haben beide nur den Technik-/Waschraum als ‚Ich‘-Bereich eingezeichnet. Der Grund: Natalie hört gerne Podcasts, wenn sie die Wäsche aufhängt, was sie auch in ihrer eigenen Wohnung gemacht hat. Sie genießt diese Zeit und erlebt sie als ‚Ich‘-Zeit. Marc hat einen kleinen Techniktisch in dem Raum. Wenn er Zeit hat, setzt er sich hier hin und bastelt an defekten Technikgeräten herum. Dabei hört er gerne ‚Die Drei Fragezeichen‘ – etwas, was er schon als Kind gemacht hat und sehr genießt.

Bei den anderen Bereichen gibt es spannende Abweichungen der Zuordnung. Ein Streit entbrennt vor allem um das Bad und das Arbeitszimmer. Ich bleibe hier mal exemplarisch bei Letzterem:

Marc versteht nicht, warum Natalie das Zimmer als einen ‚Du‘-Bereich wahrnimmt. Er sagt: „Wir haben ausgemacht, dass wir ein gemeinsames Arbeitszimmer einrichten, und wir haben doch beide unseren Schreibtisch drin“.


Natalie sagt: „Ich wollte die Wand in dem Zimmer gerne gelb streichen, aber Du wolltest das nicht. Ich würde hier gerne in Ruhe malen, aber die ganzen Ordner mit Steuer- und Versicherungszeugs sind echt alles andere als inspirierend“ usw.


Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung kommt dann z. B. noch heraus, dass Marc hauptsächlich an seinem Laptop im Arbeitszimmer masturbiert, was Natalie dagegen im Bad macht – beides trägt verdeckt zu den Konflikten in Bad und Arbeitszimmer bei. Im weiteren Verlauf wird klarer, wie unterschiedlich die beiden das Einräumen der Spülmaschine erleben und dass die Wir-Bereiche und die Ich-Bereiche, in denen sich beide einig sind, sehr harmonisch funktionieren – im Gegensatz zum Rest der Wohnung. Ohne in die einzelnen Bereiche hineinzugehen und alle Themen von Marc und Natalie zu erörtern, möchte ich hier die klärende Wirkung dieser Übung hervorheben.


‚Ich‘ um ‚Ich‘ und Zahn um Zahn.


Durch das Aufzeichnen von ‚Du‘-Bereichen, ‚Wir‘-Bereichen und ‚Ich‘-Bereichen in der Wohnung von Natalie und Marc traten Wahrnehmungskonflikte, verdeckte Wünsche und enttäuschte Erwartungen ans Tageslicht. Aber ebenso harmonische Zusammenarbeit, gemeinsame Erfolge und liebevoller Umgang. Dieses Konzept ist aber ebenso übertragbar auf alle anderen Bereiche menschlicher Beziehungen. So ist es z. B. genauso gut möglich zu fragen: „Wo vertrete ich eigentlich ‚meine‘ Meinung nach außen und wo ‚unsere‘ – ja, wo vielleicht sogar ‚Deine‘?“. Eine Frage, die sehr oft bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Elternhaus im Vordergrund steht. Auch hier ist es ratsam, zuallererst die verschieden ‚Du‘-/‚Wir‘-/‚Ich‘-Bereiche zu analysieren. Dieser erste Schritt hin zu mehr Klarheit kann zu einer sehr konstruktiven Auseinandersetzung führen. Vielleicht treten Wünsche auf, die Dir selbst gar nicht bewusst waren. Vielleicht erkennst Du über Dein Gegenüber Dinge, die Du gar nicht gedacht hättest. Aber am wichtigsten: Vielleicht kommt Bewegung in dieses System aus Dus, Wirs und Ichs.

Im Fall von Natalie und Marc führt die Klärung dazu, dass jeder ein eigenes Zimmer bekommt. Hier ist ein ausschließlicher ‚Ich‘-Bereich. Das Gegenüber hat sich hier klar unterzuordnen. Das heißt ganz konkret: Marc und Natalie können in ihren eigenen Zimmern tun und lassen, was Sie wollen. Beide verlagern ihre ‚Me-Time‘ in ihre Zimmer. Diese Verlagerung führt zu einer Harmonisierung des Bads. Natalie streicht die Wände in ihrem Zimmer gelb. Marc verlagert seine Stereoanlage und PlayStation vom Wohnzimmer in sein Zimmer. Außerdem erkennen beide, dass Marc gerne alleine kocht und sich um die Küche kümmern will – was Natalie übrigens sehr freut. Die Küche wird somit aus der Sicht von Natalie zu einem ‚Du‘-Bereich, aus Sicht von Marc zu einem ‚Ich‘-Bereich – aber dieses Mal eben in abgesprochener Weise. Die ‚Ich‘-Bereiche beim Wäsche-Aufhängen und Elektrogeräte-Reparieren bleiben gleich, das Wohnzimmer auch. Die Folge dieser Umstrukturierung ist ein deutlich konfliktärmeres Zusammenleben. An den Stellen, an denen es immer noch Auseinandersetzungen gibt, sind diese weniger nebulös und drehen sich schneller um die ‚eigentlichen‘ Themen. Sprich: Probleme können schneller dem ‚Du‘, dem ‚Wir‘ oder dem ‚Ich‘ zugeordnet werden.



Natalie & Marc - Grundriss (Nachher)

Es sollte klar sein, dass die spezielle Lösung von Marc und Natalie nicht für ein anderes Paar gelten kann. Jede Beziehung, jedes System hat eigene Besonderheiten, Problemlagen und Ressourcen. Wichtig ist:


Die Reflektion auf die jeweiligen Bereiche ‚Du‘, ‚Wir‘, ‚Ich‘ kann eine große Hilfe bei der Harmonisierung oder der konstruktiven Auseinandersetzung sein. Ganz gleich, in welchem Bereich.

Versuche es doch mal.

bottom of page