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AutorenbildEmanuel Grammenos

WORST-CASE-SZENARIOS

Aktualisiert: 15. Juni 2020

Oder: Wenn Du immer das Schlimmste erwartest, dann erwarte ebenso das Beste.

Kennst Du folgende Situation: Du sitzt zu Hause und wartest auf einen geliebten Menschen, aber er kommt nicht zur vereinbarten Zeit. Ziemlich schnell schleicht sich ein Gedanke in Deinen Kopf ein: „Was, wenn ihr/ihm etwas passiert ist?“. Oder Du fühlst irgendwo einen unbekannten Schmerz in Deinem Körper und denkst: „Oh Gott, habe ich eine schlimme Krankheit?“. Ein weiteres Beispiel wäre: Du erfährst, dass Dein*e Chef*in mit Dir sprechen will, weißt aber nicht, worüber, und denkst: „Fuck, habe ich was falsch gemacht?“.


Ich könnte hier noch viele Beispiele dieser Art aufzählen, aber das Grundprinzip ist immer dasselbe: Du bist mit einer unvorhergesehenen Situation, Wahrnehmung oder Empfindung konfrontiert und nimmst sofort das Schlimmste an. Du bist also eine Art Meister des Worst-Case-Szenarios? Dann könnte das hier ein guter alltagsphilosophischer Ratschlag für Dich sein.

Das Schlimmste ist das Beste


Bevor ich ins Worst-Case-Szenario-Bashing einsteige, brauchen wir noch ein bisschen Handwerkszeug, um nachher nicht schlechter dazustehen als davor. Am wichtigsten ist ein Blick in die Evolution und unser Gehirn. Erst dann kannst Du eine wichtige Unterscheidung machen: die zwischen gerechtfertigter Angst und ungerechtfertigter.

Denn eine Sache sollte Dir klar sein. Angst ist überlebenswichtig. Sie ist ein Schutzmechanismus unseres Körpers und unserer Psyche, die uns als Spezies das Überleben garantiert. In vielen Situationen der Urzeit war es sicherlich lebenswichtig, aus Angst zu erstarren, die Flucht zu ergreifen oder zu kämpfen. Aber auch in der heutigen Zeit ist es eine tolle Sache, dass wir Angst vor sehr schnell vorbeifahrenden Zügen haben, wenn wir zu nah am Gleis stehen. Denn unser Körper weiß genau, ab wann eine Situation lebensbedrohlich ist. Die Krux an der ganzen Geschichte ist die, dass uns Angst nicht nur evolutionär einprogrammiert ist, sondern auch durch unsere Kultur vermittelt und erlernt wird. Es gibt also Kulturen, die Ängste vor Dinge vermitteln, die nicht wirklich bedrohlich sind. Man denke nur an die große Angst vieler Menschen vor Terroranschlägen im Verhältnis zur Angst vor Autounfällen. So hatten 2016 etwas 70 % der Deutschen Angst vor Terroranschlägen und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, durch einen Terroranschlag zu sterben, geringer ist als die, von einem Blitz erschlagen zu werden.[1] Vor dem Autofahren haben recht wenige Menschen Angst und das, obwohl es das gefährlichste Fortbewegungsmittel überhaupt ist. Diese irrationale Verteilung von Angst hängt vor allem damit zusammen, dass wir Angst lernen, z. B. von unseren Eltern oder aus den Medien. Ebenso wie die Angst selbst ist auch das Erlernen von Angst ursprünglich unglaublich wichtig. Es gibt einen Spruch, der sagt:

„Der Dumme lernt durch Fehler, der Kluge durch die Fehler anderer.“

Wir haben im Verlaufe der Menschheitsgeschichte gelernt, aus den Fehlern anderer zu lernen, was unsere Entwicklung unheimlich beschleunigen kann. Die Kehrseite der Medaille ist aber die Möglichkeit, großen Gruppen von Menschen Angst anzuerziehen – und darin ist unsere westliche Kultur wirklich meisterhaft. Ich finde sogar, es lässt sich sagen: Die (ungerechtfertigte) Angst ist ein Meister aus Westeuropa und den USA.

Was wir also brauchen, ist 1.) die Fähigkeit, gerechtfertigte von ungerechtfertigten Ängsten zu unterscheiden, und 2.) ein Werkzeug, um gegen die ungerechtfertigten Ängste vorzugehen.

Gerechtfertigt vs. ungerechtfertigt


Wenn Du einen unbekannten Schmerz in Deinem Körper spürst, kann es sehr gerechtfertigt sein, dass Du Dich sorgst. Die Folge wäre, dass Du zum Arzt gehst und er Dir entweder sagt: „Machen Sie sich keine Sorgen“ oder „Sie haben x und wir machen y, um Sie zu heilen“.


Wann eine Angst gerechtfertigt und wann sie ungerechtfertigt ist, ist sehr schwer zu unterscheiden und braucht viel Erfahrung und Wissen. Es lässt sich aber sagen, dass ein ausgefeiltes Worst-Case-Szenario in Deinem Kopf oft schon ein guter Hinweis dafür ist, dass Deine Angst ungerechtfertigt ist. Denn es ist doch so: Wenn Du in einer realen Bedrohungssituation bist, dann reagiert Dein Körper unmittelbar mit erhöhtem Herzschlag, verringerter Verdauungstätigkeit und dem Abzug von Blut aus den ‚unwichtigen‘ Organen. Kurz: Er bereitet sich auf eine Flucht oder einen Kampf vor (das ist das sog. Flight-or-Fight-Syndrom). Aber ich behaupte hier, die meisten Menschen haben in Situationen Angst, die viel abstrakter und konstruierter sind. Also z. B. nach einem weit entfernten Terroranschlag. Ich erinnere mich z. B., dass ich nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin zwei Jahre lang auf keinen Weihnachtsmarkt gegangen bin, bis ich mich ermahnt habe, dass diese Angst ungerechtfertigt ist.


Entscheiden ist also eine Methode, dieser Art von ungerechtfertigter Angst zu begegnen, und das könntest Du so machen:

Wenn Du das nächste Mal ein Worst-Case-Szenario in Deinem Kopf hast, dann überlege Dir das jeweilige Best-Case-Szenario dazu. Wenn ich also z. B. Angst habe, auf einen Weihnachtsmarkt zu gehen, weil ich dort vielleicht umgebracht oder schwer verletzt werde, dann denke ich: „Vielleicht treffe ich auf einen Menschen, der so besonders ist, dass mein Leben überhaupt erst beginnt oder ich geheilt werde“. Klingt unrealistisch und lächerlich? Sehr gut, denn genau das soll es. Das Interessante ist doch, dass wir ‚die eine Seite‘ der Angst (vielleicht werde ich auf dem Weihnachtsmarkt umgebracht) nicht als irrational empfinden, die ‚andere Seite‘ (vielleicht beginnt mein Leben erst auf dem Weihnachtsmarkt) aber schon. Der Effekt dieser Übung wird langfristig sein, damit Du lernst, Deine Ängste ebenso ernstzunehmen wie ihr Gegenteil.

Nehmen wir noch mal ein anderes Beispiel. Dein*e Chef*in ruft Dich unvorhergesehen zu einem Gespräch. Du denkst: „Oh Gott, habe ich etwas falsch gemacht und werde abgemahnt/entlassen/bestraft etc.?“. In dieser Situation denkst Du nun direkt das Gegenteil mit, also: „Sehr schön, habe ich also etwas sehr gut gemacht und werde gelobt/befördert/belohnt“.

Weil dieses Beispiel nicht so extrem ist wie das andere mit dem Weihnachtsmarkt, wird sichtbar, dass beide Szenarien eigentlich ähnlich wahrscheinlich sind. Der Punkt ist aber der: Ganz egal, welches der beiden Szenarien eintritt, durch die Antizipation des Worst-Case-Szenarios machst Du Dir selbst Angst und verdoppelst sie im schlimmsten Falle sogar. Denn wenn Du wirklich etwas falsch gemacht haben solltest, dann wird die Auseinandersetzung so oder so kommen und unangenehm sein. Die Angst davor verdoppelt Dein unangenehmes Gefühl nur. Wenn es aber so sein sollte, dass Du gar nichts falsch gemacht hast, dann minderst Du diese positive Erfahrung durch Deine ungerechtfertigte Angst – und das ist doch extrem schade.

Egal, was Du machst, Dir vorher das Schlimmste auszumalen, ist meist eine schlechte Idee. Versuche doch darum einfach mal die Technik der Gegenüberstellung von Worst-Case-Szenario und Best-Case-Szenario. Ich denke, Du wirst merken, dass Du über die Zeit immer weniger die Extreme in Deinem Kopf durchspielen wirst und das machst, was am besten ist: Du lässt die Dinge, die Du nicht vorhersehen kannst, einfach auf Dich zukommen und vertraust in Deine Fähigkeit, dann damit umzugehen.

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