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  • AutorenbildEmanuel Grammenos

Essay: Produkt essen Seele auf

Aktualisiert: 4. Dez. 2019

Wie die Verwechslung von (Kunst-)Werk und Produkt die menschliche Seele bedroht.

Ich liebe mein iPhone und mein iPad. Die Mac minis, die überall in meiner Wohnung rumstehen, erfreuen mich jedes Mal aufs Neue mit ihrem süßen Design und mein Apple TV ist ein Augenschmaus. Das Beste ist es aber, all diese Gegenstände meiner Zuneigung zu kaufen. Denn jedes Mal, wenn ich ein neues Gerät von Apple auf dem Tisch liegen habe, freue ich mich über die Schönheit der Verpackung. Es ist schon bemerkenswert, wie die Designer es schaffen, ein technisches Gerät zu emotionalisieren, noch bevor ich es überhaupt ausgepackt habe. Haarscharf passen da die Kartons ineinander, das Gerät liegt fein gebettet in einer perfekt sitzenden Pappschale. Das Zubehörfach ist eher ein Luxus-Kompartiment für Apple-Accessoires als eine Plastikschale, in der noch die Billig-Kopfhörer liegen. Ich entdecke mit den staunenden Augen eines Kindes jedes Teil, als hätte ich einen geheimen Schatz gefunden. Das Wissen um die ausbeuterischen Tatsachen der Produktion, der zunehmend minderen Qualität, der negativen Umweltfolgen etc. ist plötzlich ganz weit weg. Verbannt in einen Teil meines Vorbewussten, wo es festgehalten wird von der Begeisterung, welche die perfekte Orchestrierung des Produkt- und Verpackungsdesigns ausgelöst hat. Natürlich liegt das nicht ausschließlich an der Verpackung direkt vor mir. Es ist eher die ‚Verpackung‘ im Gesamten, die diesen Effekt hat. Dazu gehört natürlich die Werbung, die Art und Weise, wie wir über Apple-Produkte sprechen, wie diese ein Teil einer sozialen Praxis sind, wofür es steht, sie zu nutzen, und so weiter und so fort …

Dabei kann man davon ausgehen, dass nichts von alledem Zufall ist. Schaut man sich den Schöpfer dieses Kults, Steve Jobs, an und setzt ihn dann noch ins Verhältnis zum Ermöglicher dieses Kults, Steve Wozniak, so wird schnell klar, das Erschaffen eines Kults, ja besser noch einer Glaubensgemeinschaft, war von Anfang an Strategie. Eine Strategie, die zu nichts Geringerem geführt hat, als dass Apple heute das wertvollste Unternehmen der Welt ist. Nimmt man diese Tatsache als Kontrastfolie, anhand derer man versucht, eine andere Entwicklung in unserer Gesellschaft zu verstehen, so kommt man auf eine interessante Spur: die Spur der Allgegenwärtigkeit der Verwechslung von Produkten und Werken. Von dieser Verwechslung handelt dieser Essay und um sie genauer zu charakterisieren, müssen wir das Feld der perfekt designten Apple-Produkte verlassen.


Social-Media-Kunst


Bewege ich mich in den sog. ‚sozialen Medien‘, so fällt mir immer wieder auf: Viele Menschen begeistern sich für Kunst. Oder besser gesagt, sie begeistern sich für etwas, was aussieht wie Kunst. So sehe ich beim Scrollen durch diverse Timelines immer wieder Posts von Gedichten, kleiner Prosa, Bildern von Architektur, Malerei, Theater etc.

Besonders ins Auge stach mir im Zuge dieser Posts neulich ein schön aussehender Spruch, den eine ‚Freundin‘ gepostet hatte. Der Spruch war mit einer Schreibmaschine auf ein dickes Papier getippt und quadratisch abfotografiert. Der Marketing-Kenner weiß: optimal, da man auf dem Mobiltelefon eine größere Fläche des Bildschirms im Instagram-Stream bekommt. Also maximale Effizienz. Hurra! Als ich den Post sah, dachte ich: „Oh, das sieht schön aus“. Nur, um gleich danach zu merken, dass ich den Spruch noch nicht mal gelesen hatte und mir schon ein erstes ästhetisches Urteil gebildet hatte. Mich hätte der ganze Vorgang wahrscheinlich nicht so beschäftigt, wenn der Spruch nicht genau das fortgesetzt hätte: Er las sich erst mal schön. Das mag merkwürdig klingen, aber es ist zutreffend. Es war ein Satz, der sehr angenehm lesbar war. Man denke an Werbetexte. Eingängig, einfach, erfreulich. Keine Haken, keine Stolpersteine. Kurz und bündig. Das Problem bei diesem ‚Gedicht‘ war, dass es absoluter Quatsch war. Der sich als tiefer und weiser philosophischer Spruch gebärdende Text war einfach nur eine sinnlose Aneinanderreihung pseudo-bedeutungsvoller Wörter. Auch das Befragen des Textes nach lyrischen Qualitäten führt zu einem negativen Urteil. Es war also m. E. weder ein literarischer, philosophisch wertvoller noch ein lyrisch wertvoller Text.

Ich war angefixt und begab mich auf das Instagram-Profil der ‚Künstlerin‘. Es gab eine Vielzahl an Texten ähnlicher Gattung wie denen, die ich gesehen hatte. Alle waren in demselben Style fotografiert und in ein sehr ansprechendes Corporate Design eingebunden. Ich las, dass die Autorin eine sehr bekannte („well known“) Lyrikerin ist. Bekannt für ihre weltberühmte Poesie („world renowned poetry“). Word. Da ich in keiner Weise den Anspruch erhebe, alles zu kennen, was so im literarischen Betrieb passiert, begann ich zu googeln. Ich fand jedoch keinerlei Rezensionen in einschlägigen Zeitungen, Blogs oder Magazinen. Tatsächlich fand ich überhaupt keine Rezensionen über die Lyrikerin. Auch keine Nennungen auf Seiten irgendwelcher Kunstkritiker oder auf irgendwelchen anderen Seiten. Kein Aufschlag in der Presse oder im Netz außer auf den diversen Social-Media-Kanälen der Künstlerin selbst. Lange Rede, kurzer Sinn – ich kam zu dem Schluss, dass die Autorin eine unbekannte Lyrikerin ist, die vor allem durch ihr sozial-mediales Auftreten den Anschein erweckt, bekannt zu sein.

Nachdem ich selbst einige Jahre im sog. Kunstbetrieb gearbeitet habe, kenne ich natürlich das neue Credo: „Jeder Künstler muss sich selbst vermarkten“. Darum nahm ich es auch dieser jungen Künstlerin nicht übel, sich als etwas darzustellen, was sie wohl vor allem gerne sein würde. Was mich allerdings beschäftigte, war die Art der Inszenierung. Denn ich hatte immer gedacht, die Lyrik und die Schriftstellerei seien besonders gut geschützt gegen Photoshop-Trickserei, visuellen Selbstdarstellungswahn und die Überformung des Inhalts durch die Darstellungsform. Denn seien wir ehrlich, am Ende zählt der Text mit seinem Inhalt und nicht die verwendeten Fonts. Oder?


Verwechslung von Produkt und (Kunst-)Werk


So sehr ich mir wünschte, dass die obige Frage rhetorischer Natur wäre, muss ich feststellen, dass dem nicht so ist. Denn – und hier schließt sich der Kreis zu Apple – die Verpackung, und damit meine ich explizit die produkthafte Präsentation der Kunstwerke, hat in unglaublicher Art und Weise die Kunstwerke selbst überformt. Es ist ganz gleich, ob ich mir die oben angesprochene Lyrikerin oder eine junge Musikerin ansehe, die mehr Arbeit in den Look des Videos, ihres Outfits, ihres Instagram-Profils und ihrer Selfies steckt als in die Musik. Ob es um einen Romanschriftsteller geht, der mehr durch seinen YouTube-Kanal versucht, den Schein zu erwecken, dass er politisch ist, als durch seine Bücher, oder um die Malerin, die den Prozess der Entstehung ihrer Bilder in zeitaufwendigen Instagram-Storys dokumentiert, ohne dabei zu merken, wie sehr ihr schöpferischer Prozess dadurch zu einem Werbefilm geworden ist. In allen Fällen komme ich beim Betrachten dieser Inszenierungen und der darin inszenierten Werke zu dem Schluss: Die meisten aufstrebenden Künstler heutzutage sind Verpackungskünstler! Das ist ihre Profession. Sie sind in den allermeisten Fällen in beachtenswerter Weise in der Lage, Dinge in einem engeren Sinne so zu verpacken, dass sie als Werke erscheinen. Sich in einem weiteren Sinne selbst so zu verpacken, dass sie als Künstler erscheinen. Doch scheinen sie meist nicht mehr in der Lage zu sein, zwischen dieser Verpackung und dem wirklichen Inhalt zu unterscheiden. Am Ende ist vollkommen unklar, was denn nun Kunst(werk) ist und was Produkt. Wer ein Künstler und wer ein Marketing-Experte. Die angesprochene Allgegenwärtigkeit der Verwechslung von Produkten und Werken – wir befinden uns plötzlich mittendrin und laufen Gefahr, die Orientierung zu verlieren. Um neue Richtungsangaben zu erhalten, ist es vielleicht hilfreich, einen Blick zu denen zu werfen, die sich schon seit langer Zeit mit diesen Fragen beschäftigen: den Philosophen.


Kunst? oder „Alles muss raus!“ ?


Heidegger schrieb einst in seiner kunsttheoretischen Abhandlung ‚Der Ursprung des Kunstwerks‘: „Der Künstler ist der Ursprung des Werkes. Das Werk ist der Ursprung des Künstlers. Keines ist ohne das andere“.

Bezieht man dieses dialektische Gedankenmodell auf die oben beschriebene ‚neue Art‘ des Künstlers, so zeigt sich: Die meisten sog. ‚Künstler‘ sind Ursprung einer schönen Verpackung und diese Verpackung ist Ursprung dieser sog. ‚Künstler‘.

„Der Künstler ist der Ursprung des Werkes. Das Werk ist der Ursprung des Künstlers. Keines ist ohne das andere.“

So erstaunt es nicht, dass bei dem Versuch der Rezeption (sprich der Aufnahme) der mannigfaltigen neuen Kunstwerke in den allermeisten Fällen das dargestellte Kunstwerk (also das Gedicht, das Bild, das Musikstück, der Roman) in den Hintergrund tritt und sich das ‚eigentliche Kunstwerk‘ in den Vordergrund drängt. Dieses ‚eigentliche Kunstwerk‘ ist nichts anderes als: die werbliche Form der Darstellung.

Das hat wiederum zur Folge, dass die meisten Künstler, deren Ursprung mit Heidegger ja diese werbliche Darstellung wäre, als Werbemodels ins Bewusstsein treten. Plötzlich ist es nicht mehr ein (Kunst-)Werk, das mit einer gewissen Schöpfungshöhe aus einer Person einen Künstler macht (Ursprung des Künstlers ist). Es ist auch nicht mehr eine Person, die aus einem einfachen Ding (einem Stück Papier, einer Gitarre, einer Leinwand) durch einen schöpferischen Akt ein (Kunst-)Werk macht (Ursprung des Werkes ist). Nein, es ist die werbliche Präsentation eines vermeintlichen Werkes, die aus einer Person ein Werbemodel macht. Und es ist das werbliche Auftreten des vermeintlichen Künstlers, das aus einem Ding ein Produkt macht. Es passiert also zweierlei und das zur selben Zeit:

Erstens werden die Menschen, die gerne Künstler sein wollen, durch ihre eigenen ‚(Kunst-)Werke‘ (ihre Verpackungskunst) zu Werbemodels.

Zweitens werden die Dinge, die als Kunstwerke präsentiert werden, durch

die ‚Künstler‘ (die Werbemodels) zu Produkten.

Auf diese Weise haben wir uns vollständig dem Primat der Werbeindustrie unterworfen. Gratulation.


Poietisch oder was? Ne, praktisch!


Wer ist aber nun dieses ‚Wir‘, von dem wir eben sprachen? Wir, das sind die, die vollständig mit und in der Werbung aufgewachsen sind. Es sind Menschen, die immer und überall von Werbung umgeben waren, ohne dass sie die Kompetenz gehabt hätten, mit dieser Werbung kritisch umzugehen. Diese Menschen haben vollkommen vergessen, dass Kunstwerke für sich selbst sprechen müssen. Ebenso scheint es so, als könnten sie auf breiter Front zwischen Werbung und Kunst nicht mehr unterscheiden. Dabei gibt es einen grundlegenden Unterschied: Ein Kunstwerk versucht nicht, einen gewissen Zweck zu erreichen – ganz im Gegensatz zur Werbung. Das Kunstwerk ist, wie die alten Griechen das nannten, ein Erzeugnis der πρᾶξις (‚praxis‘). Praxis zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihren Zweck in sich trägt und er nicht von außerhalb hinzukommt respektive hineingelegt wurde.

Werbung allerdings ist der Versuch des Erreichens eines Zwecks mit künstlerischen Mitteln. Der Zweck ist also von außen vorgegeben. Dies ist es, was unsere antiken griechischen Freunde ποιεσις (‚poiesis‘) genannt haben. Der Zweck eines Werbefilms ist von außen her definiert, meistens vom Auftraggeber. Er soll z. B. den Verkauf ankurbeln, er soll die Marke bekannter machen oder eben den Rezipienten emotionalisieren. Was auch immer das genaue Kommunikationsziel ist, kein Mensch macht einen Werbefilm, ohne einen Zweck damit zu verfolgen – und sei es nur der Zweck, Geld zu verdienen.

Die ständige Vermischung der beiden Elemente von ‚Praxis‘ und ‚Poiesis‘ – eine zunehmende Überbetonung der poietischen Seite ist m. E. eine große Gefahr für die Kunst im engeren und für die menschliche Psyche im weiteren Sinne. Denn es besteht die Gefahr, eine gesamte Generation dazu zu bewegen, mit demselben Gefühl der Religiosität, mit welcher große Kunst immer erlebt wurde, Werbung zu erleben, oder zumindest zu denken, sie erlebe die Werbung mit demselben Gefühl der Religiosität. (Religiosität meint hier übrigens nichts, was mit der Kirche zu tun hat, sondern das Erleben von Erhabenheit. Ein Gefühl, etwas zu erleben, was größer ist als wir, was uns alle miteinander verbindet, uns vor allem mit uns selbst verbindet. Eine Art ‚Rücksicht‘ zu einem Punkt, an dem alles noch eins war/ist – und genau diese Rücksicht ist der Ursprung des lateinischen Wortes religio.)


Der Umbau der menschlichen Seele


Der Versuch, Werbung, Marken und Produkte mit dem Gefühl der Erhabenheit zu verbinden, ist nichts Geringeres als der Versuch, die kreativen und künstlerischen Kräfte der Menschen umzuformen. Sie zu kanalisieren. Nicht dahingehend, dass Kunstwerke geschaffen werden, die den Status quo gesellschaftlicher Zustände reflektieren, sondern die kreativ-künstlerischen Kräfte dahingehend zu leiten, dass sich jeder selbst als künstlerisches Produkt präsentiert und jedes präsentierte Produkt als Kunst erlebt. Der Effekt ist folgenreich: eine Gesellschaft, in der Menschen nicht nur konsumieren, sondern pro-sumieren. Das heißt: Die Menschen produzieren die Güter, die dann konsumiert werden, selbst und zwar gratis oder zu vollkommen lächerlichen Preisen. Die schon lange praktizierte (Selbst-)Ausbeutung in der sog. Kreativbranche, das Zurückschrauben hart erkämpfter Rechte der Arbeiter in den Start-ups und der recht neue, freiwillige und totale Ausverkauf des Privatlebens sog. Influencer sind nur einige Beispiele dieses Effekts.

Sollten wir alle tatsächlich zu Pro-sumenten werden, sprich sollte es gelingen, die kreativen Kräfte so umzuformen, dass sich jeder selbst als künstlerisches Produkt präsentiert und jedes präsentierte Produkt als Kunst erlebt, wird

(1) die Kunst ihres ureigenen Wesens beraubt und

(2) die Menschen werden eine zunehmende Unzufriedenheit und Leere empfinden, ohne zu wissen, wo diese ihren Ursprung hat.

Diese Leere ist der Effekt, der sich einstellt, wenn uns das Gefühl der Erhabenheit abhandenkommt. Dieses Gefühl der Erhabenheit stellt sich ein, wenn ein Mensch einem Kunstwerk begegnet, es z. B. sieht, hört, berührt, sich vorstellt, liest o. Ä. Es ist das Gefühl eines tiefen ‚Ergriffen-Seins‘. Der Mensch wird von dem Gefühl erfasst, eine tiefere Wahrheit zu erfahren, und fühlt sich verbunden mit der Welt, den sie belebenden Menschen und den sie durchwirkenden Kräften des menschlichen Schaffens – vor allem aber fühlt er sich verbunden mit sich selbst. Ein solches Erlebnis kann selbstverständlich nicht oft geschehen. Es bleibt sicherlich auch dann oft aus, wenn man vor einem wahrhaft erhabenen Kunstwerk steht. Aber es bleibt mit absoluter Sicherheit immer aus, wenn man vor einem Produkt steht oder wenn man einen Produktfilm oder Werbefilm sieht. Denn die Erhabenheit bedarf der Zwecklosigkeit. Ohne sie wird die menschliche Seele vom Erhabenen nicht affiziert – wie Kant das vielleicht sagen würde. Anders ausgedrückt: Ohne die zwecklose Hingabe des Künstlers an das Kunstwerk wird kein Betrachter des Kunstwerkes von ihm je berührt werden.


Erhabenheit vs. Zugehörigkeit


Diese angesprochene zwecklose Hingabe aber ist es, die durch das omnipräsente Credo der Selbstvermarktung und Selbstoptimierung systematisch bedroht ist. Denn der Versuch, die Erhabenheit mit dem Erleben von Produkten zu verbinden, ist zum Scheitern verurteilt. Der Mensch wird höchstens ein Gefühl der Zugehörigkeit erfahren, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist nichts anderes als eine Glaubensgemeinschaft, die z. B. einer bestimmten Marke oder einem bestimmten Produkt anhängt. So wird auf der Basis der Verwechslung von (Kunst-)Werk und Produkt auch das Gefühl von Erhabenheit und Zugehörigkeit verwechselt. Das ist hochgefährlich, denn die Erhabenheit ist etwas, was nicht an Bedingungen geknüpft ist, die mir genommen werden können. Die reine Affizierbarkeit – sagen wir hier der Einfachheit halber: die Resonanzfähigkeit – der menschlichen Seele ist eine Fähigkeit, die uns von Geburt an gegeben ist. Diese Fähigkeit ist nicht daran geknüpft, dass ich ein bestimmtes Bild ansehe, dass ich ein bestimmtes Musikstück höre oder einen bestimmten literarischen Text lese. Die Fähigkeit ist Teil unseres Menschseins und hängt nicht von äußeren Faktoren ab. Niemand kann mir das Gefühl der Erhabenheit verwehren, indem er mir z. B. gewisse Kunstwerke vorenthält. Selbst wenn mir das Erleben aller Kunstwerke der Welt verwehrt wäre, könnte ich selbst mit einem Stock ein Bild in den Sand zeichnen und durch seine Werkhaftigkeit beim Betrachten Erhabenheit empfinden.

Ganz anders steht es aber mit der Zugehörigkeit. Auch sie basiert auf einer grundlegenden Fähigkeit der menschlichen Seele, und zwar der Fähigkeit, Beziehungen einzugehen. Der Unterschied zur Erhabenheit ist aber der, dass das Gefühl der Zugehörigkeit unmittelbar verknüpft ist mit dem Bedürfnis des Angenommen-Seins. Jeder Mensch hat das tiefe und durchdringende Verlangen, sich angenommen zu fühlen. Tut er das, fühlt er sich zugehörig. Das große Problem hierbei ist die Tatsache, dass ihm dieses Gefühl der Zugehörigkeit leicht genommen werden kann. Denn die Zugehörigkeit hängt immer an anderen Menschen und Menschengruppen. Gewähren sie Einlass in ihre Reihen, so fühle ich mich zugehörig. Verwehren sie mir diesen Einlass aber, so fühle ich mich ausgestoßen, abgelehnt und entfremdet. Dies ist der Hebel, mit welchem wir Menschen dazu bringen können, alles zu tun – sogar sich selbst und andere zu töten. So machtvoll ist das Verlangen, sich angenommen zu fühlen. Spätestens jetzt sollte klar werden, warum ich oben geschrieben habe, dass die Verwechslung von Erhabenheit und Zugehörigkeit hochgefährlich ist. Denn der Einlass in die Glaubensgemeinschaft derer, die Produkte und Kunst verwechseln, wird über den Besitz des entsprechenden Produktes reguliert. Wer es besitzt, ist automatisch dabei. Wer es nicht besitzt, ist automatisch ausgeschlossen. Wenn nun aber, wie oben beschrieben, immer größerer Teile des eigenen Lebens, ja sogar das ganze Leben (man denke an den Influencer), in einer Verwechslung von Werk und Produkt, von Erhabenheit und Zugehörigkeit bestehen, so ist eine Teilhabe am Leben des anderen nur noch durch den Erwerb seines Produktes, sprich seines Lebens möglich. Durch diesen Mechanismus produziert jeder Mensch zu jeder Zeit sein Leben für einen Marktplatz, während er zeitgleich andauernd das Leben der anderen auf diesem Marktplatz konsumiert. Er ist stets Produzent und Konsument des Lebens an sich. Der perfekte Prosument.

Wenngleich dieser Mechanismus vielleicht abstrakt wirken mag, so bin ich davon überzeugt, dass er der Grund vieler ganz konkreter Probleme ist. Dazu sind insbesondere zu zählen:

  • die abnehmende Beziehungsfähigkeit

  • das zunehmende Gefühl der Leere vieler Menschen

  • die zunehmende Atomisierung des Individuums

  • die abnehmende Fähigkeit zur Selbstliebe


Was bleibt zu tun?


Was also kann man gegen diese um sich greifende Verwechslung tun? Ich bin der Meinung, der erste, wichtige Schritt ist das Erkennen dieses Mechanismus. Vielleicht geschieht das durch das Lesen dieses Textes. Sehr viel wahrscheinlicher ist aber, dass es viele Menschen selbst herausfinden, indem sie ihrer Intuition nachgehen, die sagt, dass etwas an ihrem Leben nicht stimmt. Mindestens genauso wichtig wie das Erkennen ist aber meiner Ansicht nach das Anwenden auf das eigene Leben. Also zu fragen: „An welchen Stellen verwechsle ich Zugehörigkeit und Erhabenheit? Welche von mir bewunderten Werke sind in Wirklichkeit Produkte? Welche Künstler eigentlich Werbemodels?“.

Ein weiterer wichtiger Schritt ist es wohl, das Gefühl der Erhabenheit wiederzuentdecken. Ich glaube, es kann nützen, sich die ‚alten‘ (Kunst-)Werke anzusehen. Diejenigen, bei denen man sicher sein kann, dass sie solche sind. Was nun mal durch die Brille der Geschichte immer deutlich leichter ist als im Hier und Jetzt. Vielleicht werden diese alten (Kunst-)Werke vielen nicht gefallen, aber ich bin sicher, dass es früher oder später zu diesem Moment kommen wird, bei dem sich das Gefühl der Erhabenheit einstellt. Das wird zuerst nur ganz leise und unmerklich sein, aber schon da wird es einen Unterschied zur Zugehörigkeit geben. Und ich garantiere, dass es nicht bei einem Produkt auftreten wird. In der Folge ist es gut, dieser zunächst leisen Erhabenheit nachzugehen. Stellt sie sich das erste Mal bei Otto Dix ein – schaue mehr Otto Dix! Spürst Du Sie beim Hören von Bach – höre mehr Bach! Fühle ich sie bei einem Jazz-Konzert im lokalen Jazz-Klub – höre mehr Jazz! Der Kernpunkt ist der: Schule die Fähigkeit, Erhabenheit zu empfinden, und die Leere wird verschwinden

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