Über die Entscheidungslosigkeit, die Entscheidungs-unfreudigkeit und ihre Ursachen.
Ich laufe mit meiner Freundin an einem heißen, vollen und lauten Samstagnachmittag durch die Haupteinkaufsstraße einer großen deutschen Innenstadt. Wir sind auf einer Hochzeit eingeladen und sie möchte gerne ein neues Kleid. Ich mag diese seltenen Möglichkeiten, die Wirklichkeit des Shoppings zu beobachten und mir meine Gedanken zu machen. Ich beobachte Menschen, die durch die Straßen hetzen, getrieben von einer unsichtbaren Kraft. Ich sehe die Männer und Frauen in den Läden die verschiedensten Kleidungsstücke anprobieren und sich darüber austauschen, ob es jetzt das richtige ist. Ich sehe – zu meinem Leidwesen – immer mehr Menschen mit Unmengen von Kleidungsstücken, die sie günstig bei Primark oder sonst einem Billiganbieter gekauft haben, und ich beobachte immer wieder eine Situation, die sich so oder in ähnlicher Weise in unzähligen Konsumtempeln abspielt.
Eine junge Frau ist mit ihrem Freund einkaufen und sucht eine Hose. Er sitzt recht gelangweilt vor der Umkleidekabine und sie trägt eine Hose nach der anderen in die Kabine, um dann mit erwartungsvollem Gesicht herauszutreten und zu fragen: „Uuund? Wie findest du die?“. Die Antwort des Freundes bewegt sich in einem Rahmen von „Passt“ und „Gut“. Was die Freundin nicht wirklich zufriedenzustellen scheint. „Also ich finde die jetzt die beste von allen, die wir angeschaut haben“, erklärt sie, als sie eine Hose anhat, die tatsächlich perfekt zu ihrer Figur passt und die sie sehr selbstbewusst trägt. „Cool, dann nimm sie!“, sagt ihr Freund, während er auf sein Smartphone schaut. Als wäre die Aufforderung genau das gewesen, worauf sie gewartet hat, dreht sie sich zur Verkäuferin und sagt: „Können Sie die zurücklegen?“.
„Natürlich!“, sagt die Verkäuferin. Als sie mit der Hose verschwunden ist, fragt der Freund: „Warum nimmst du sie nicht gleich mit?“. Die Freundin schaut ihn etwas ungläubig an und sagt: „Nein, ich muss mir das doch noch überlegen – und überhaupt, vielleicht finde ich noch was Besseres“.
„Etwas Besseres?“, fragt der Freund. „Aber wir sind seit zwei Stunden unterwegs und du hast eine Million Hosen anprobiert.“
„Ach Quatsch, das stimmt doch gar nicht, es waren nicht soo viele. Und es gibt bestimmt noch fünf gute Läden, in denen wir noch nicht waren“, erwidert die Freundin, als würde sie etwas erklären, von dem ihr nicht klar ist, wie man es nicht verstehen kann.
„Schatz, mal im Ernst. Du hast bestimmt 20 Hosen anprobiert. Die jetzt hat dir am besten gefallen, der Preis passt auch. Was gibt es da schon zu überlegen?“, sagt der Freund nun sichtlich genervt.
„Na, ich will halt sichergehen, dass ich die richtige Wahl treffe und nicht nachher eine bessere Hose sehe und mich ärgere, dass ich die gekauft habe“, sagt die Freundin.
„Das macht überhaupt keinen Sinn und ich würde es gerne packen“, sagt der Freund, wobei er resolut auf seinem Smartphone herumtippt. „Kauf einfach die verdammte Hose.“
Die junge Frau ist sichtlich hin- und hergerissen. Sie schaut in den Spiegel und in ihrem Gesicht spiegelt sich ein innerer Konflikt. Vielleicht denkt sie die Optionen durch. Was kann passieren, wenn sie die Hose kauft und auf dem Weg nach Hause in einem Schaufenster etwas Besseres sieht? Wie würde sich das auf ihre Freude über die neue Hose auswirken? Wäre dann die ganze investierte Zeit und Energie nicht umsonst? Was, wenn sie die Hose kauft und keine bessere auf dem Heimweg sieht? Würde sie dann nicht daheim vor dem Spiegel stehen und darüber nachgrübeln, ob sie nicht einen Laden ausgelassen hat? Würde diese Unsicherheit nicht die Freude über die gekaufte Hose kaputt machen? Und überhaupt, was war mit Martin los? Er schien sie überhaupt nicht zu verstehen.
Ich sitze auf einer Couch, die der Laden offensichtlich für die oft männlichen Begleitpersonen weiblicher Shopper aufgestellt hat (es liegen nur Männermagazine auf dem Tisch), und komme ins Nachdenken über diese Szene. Was genau ist der Grund, dass es vielen Menschen so schwerfällt, Entscheidungen zu treffen? Was ist mit dem „Vielleicht finde ich noch was Besseres!“ gemeint, mit dem man oft eine Entscheidung infrage stellt? Wie ich so dasitze, wird mir klar, dass es etwas mit Möglichkeit und Wirklichkeit zu tun hat. Mit der Tatsache, dass wir endliche Wesen sind, und damit, dass wir nur über begrenztes Wissen verfügen. Außerdem wird mir klar, welche wichtige Rolle Werbung und Psychologie hier spielen. Ich beginne, Notizen zu machen, und entscheide mich, diesen Essay zu schreiben: Er soll die Hintergründe der Entscheidungs(un)freudigkeit und/oder Entscheidungslosigkeit beleuchten und einen möglichen Ausweg anbieten.
Wirklichkeit vs. Möglichkeit
Es ist nicht schwer, dafür zu argumentieren, dass wir in einer Krise der Wirklichkeit stecken. Überall hört man von alternativen Fakten, Fake News, Massenbeeinflussung, Bedarf nach Faktencheckern, Bildung von mehr und mehr Subkulturen, Echokammern etc.
Diese aktuell omnipräsenten Narrative scheinen darauf zu deuten, dass die Wirklichkeit nicht wirklich ist. Sie scheint etwas zu sein, was ausschließlich der Interpretation unterliegt. Etwas, was so oder so sein kann. Etwas, was es nicht wirklich gibt, sondern etwas, was vollständig von uns geschaffen wird, von uns gewählt wird, von uns manipuliert und zu unserem Zweck genutzt wird. Nun ist das tatsächlich nicht ganz falsch. Aber wie so oft, wenn man etwas aus philosophischer Sicht betrachtet, steckt der Teufel im Detail. Denn wenngleich es nicht ganz falsch ist, dass wir die Wirklichkeit beeinflussen, so ist es auch nicht ganz richtig, dass wir sie so beeinflussen können, dass sie z. B. vollständig aus sog. ‚alternativen Fakten‘ besteht. Daniel Patrick Moynihan soll einmal zu einem Diskussionsgegner gesagt haben: „Everyone is entitled to their own opinions, but they are not entitled to their own facts“ (frei übersetzt: Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten). Mit der Wirklichkeit verhält es sich ganz ähnlich. Es ist vollkommen in Ordnung, dass die Menschen unterschiedliche Meinungen über die Wirklichkeit haben, und natürlich sind diese Meinungen selbst Teile der Wirklichkeit. Aber diese Meinungen sind eben nicht die vollständige Wirklichkeit. Somit hat jeder das Recht auf eine unterschiedliche Meinung über die Wirklichkeit, aber eben nicht das Recht auf eine unterschiedliche Wirklichkeit. Warum ist mir das hier wichtig? Nun, ein erster Hinweis sei dahingehend gestattet, dass die junge Frau auf der Suche nach der perfekten Hose die Hose suchte, die wirklich die beste ist. Im Gegensatz zu einer Hose, die möglicherweise die beste ist. Daher auch der aus dieser Perspektive vollkommen richtige Wunsch, alle Hosen anzusehen. Hierin liegt im Übrigen erst mal eine tiefe Erkenntnis – auch wenn ich später dafür argumentieren werde, dass sie nicht der eigentliche Grund des Verhaltens der jungen Frau ist. Es ist die Erkenntnis, darüber im Klaren zu sein, dass ich alle Tatsachen (in diesem Falle Hosen) kennen muss, um bewerten zu können, welche (meines Erachtens) die beste ist. Ich möchte in diesem Essay nicht darauf eingehen, welches denn die Kriterien der Bewertung für „beste“ oder „schlechteste“ sind. Gehen wir hier einfach davon aus, die junge Frau weiß, was ihr modisch gefällt, und definiert anhand dessen dann die Hose als ‚die beste‘, die sie am schönsten findet.
Wenden wir uns wieder dem eigentlichen Thema zu. Was hier interessant ist, ist das vorher angesprochene Begriffspaar von Möglichkeit und Wirklichkeit. Oben sagten wir, die Frau suche die Hose, die wirklich die beste sei. Die Hose, die ihr gut gefallen hatte und die sie sich hatte zurücklegen lassen, war nur möglicherweise die beste. Hier sind wir an einer außergewöhnlichen Stelle des menschlichen Bewusstseins. Als Menschen stehen wir zu jedem Zeitpunkt einer Unendlichkeit an Möglichkeiten auf der einen Seite und einer Einzigartigkeit der Wirklichkeit auf der anderen Seite gegenüber. Stellen wir uns dazu eine einfache Situation vor. In dem Moment, in dem ich diesen Essay schreibe, wähle ich die Richtung des Essays aus, die sich durch Sätze ergibt, die sich aus Wörtern ergeben, die aus Buchstaben bestehen. Bevor ich also weiterschreibe, habe ich zu jedem Zeitpunkt eine unendliche Möglichkeit an Worten, Buchstaben, Sätzen, Richtungen meines Essays. Nun könnte man einwenden: Das stimmt nicht, die Wörter und Sätze, Buchstaben und Richtungen sind zwar zahlreich, aber doch endlich. Bedenken wir aber, dass ich hier zur Verdeutlichung meines Arguments den Bereich der Wirklichkeit extrem beschränkt habe. Die Wirklichkeit ist ja nicht nur der Bereich der Wörter, Sätze, Buchstaben, Richtungen. In Wirklichkeit gehört ja noch dazu, in welcher Art ich diese eintippe (schnell/langsam), auf welchem Computer, in welchem Textverarbeitungsprogramm, wo ich dabei sitze, wie ich dabei fühle, warum ich mich entscheide, das zu tun, wen ich um Hilfe bitte, wann ich Pausen mache usw. usf. Das heißt, die Wirklichkeit beinhaltet zu jedem Zeitpunkt eine unendliche Vielfalt an möglichen Wirklichkeiten, die auf den Moment folgen könnten – und vielleicht sogar folgen. Der Physiker Hugh Everett hat diesen Gedanken in seiner Viele-Welten-Theorie in der Sprache der Quantenmechanik formuliert (wobei der Name der Viele-Welten-Theorie eigentlich auf Bryce DeWitt zurückgeht [1]). Der Gedanke unendlich vieler möglicher Welten existiert aber schon seit der Antike.
Als Menschen haben wir nun das Problem, dass wir so intelligent sind, dass wir diesen Zusammenhang erkennen, dass wir aber so beschränkt sind, dass wir mit ihm nicht umgehen können. In den letzten Jahren ist dieses Problem auf empirischer Ebene dadurch potenziert worden, dass wir zwei entgegengesetzte Entwicklungen beobachten können:
1.) Wir werden tagtäglich mit exponentiell wachsenden Möglichkeiten in Form von Informationen konfrontiert.
2.) Uns wurde durch die Werbung stets eine perfekte Wirklichkeit suggeriert.
Wichtig ist dabei, dass beide Punkte auf jeden Menschen wirken, ganz gleich, ob er sich darüber bewusst ist oder nicht. Die Informationsexplosion des 20. Jahrhunderts führt bei jedem Menschen zu der bewussten oder unbewussten Annahme einer Unendlichkeit der Möglichkeiten, sprich der möglichen Wirklichkeiten. Auf der anderen Seite führt die stetige Beschallung mit extrem unrealistischen Bildern von Familie, Aussehen, Beziehungen, Sexualität, Ernährung, Glück, Zufriedenheit etc. zu der Erwartung einer (perfekten) Wirklichkeit. Aus dieser doppelten Überforderung ergibt sich für den einzelnen Menschen ein Dilemma. Die Entscheidung für eine Wirklichkeit macht stets unendlich viele mögliche Wirklichkeiten unmöglich.
Denken wir noch mal an das junge Paar und den Hosenkauf: Der Freund forderte die junge Frau auf, sich durch den Kauf der Hose für eine Wirklichkeit zu entscheiden. Die junge Frau dagegen fürchtet das Zusammenbrechen der unendlich möglichen Wirklichkeiten auf eine einzige Wirklichkeit. In der Folge entscheidet sie, sich nicht zu entscheiden. An dieser Stelle will ich auf das eingehen, was ich weiter oben geschrieben habe. Dort sagte ich, dass die junge Frau eine tiefere Erkenntnis dadurch hat, dass sie sich darüber bewusst ist, dass sie alle Tatsachen (also in diesem Falle Hosen) kennen muss, um zu wissen, welche die beste für sie ist. Darüber hinaus habe ich aber geschrieben, dass dies wahrscheinlich nicht der eigentliche Grund ihres Zögerns ist. Denn wenngleich diese Erkenntnis theoretisch richtig ist, so ist sie doch aus praktischer Sicht gänzlich nutzlos. Da wir Menschen, als endliche Entitäten, nie alle Tatsachen kennen können. Selbst bei einer so kleinen Sache wie Alle-Hosen-in-allen-Läden-einer-Stadt ist das schon sehr aufwendig. Geschweige denn bei einer Sache wie Alle-Hosen-weltweit. Oder Alle-möglichen-Partner, Alle-möglichen-Karrierewege, Alle-möglichen-Urlaubsziele, Alle-möglichen-Bücher … Kurz: Alle möglichen Optionen irgendeiner Entscheidung. Diese Erkenntnis sollte von keiner sonderlich großen Bedeutung sein. Es ist eine Situation, mit der Menschen konfrontiert sind, seit sie Menschen sind. Und doch scheint diese Situation zunehmend zum Problem vieler Menschen zu werden. Immer häufiger liest man von der Entscheidungsunfreudigkeit und Entscheidungslosigkeit der Menschen, bezogen auf Beziehungen, Karriere, Lebenswege, politische Parteien, ja banale Dinge wie Handyverträge. Ich bin davon überzeugt, diese Entscheidungsunfreudigkeit ist der doppelten Überforderung unserer Psyche und unseres Geistes geschuldet. Doppelt ist sie in dem Sinne, wie ich es oben formuliert habe.
Erstens führt das exponentielle Wachstum an Informationen zu einer dauerhaften kognitiven Überlastung. Unser neuronales System ist nicht mehr in der Lage, all der Informationen Herr zu werden. Betrachtet man alleine den Zuwachs wissenschaftlicher Zeitschriften in den vergangenen 200 Jahren wird diese Überlastung schlagartig deutlich (siehe Abb.1).
Mit der Digitalisierung kommt es zu einer regelrechten Informationsexplosion. Dies gilt nicht nur für die Wissenschaft, sondern für alle Bereiche. Diese Informationsexplosion führt zu einer intuitiven Erkenntnis des Sachverhaltes der stetig wachsenden Unwissenheit. Jeder Mensch weiß intuitiv, dass er nie in der Lage sein wird, alle Möglichkeiten zu überblicken – und sei es in einem noch so kleinen Teilbereich der Welt. Etwas pointierter ausgedrückt: Jeder weiß, dass er jeden Tag verhältnismäßig dümmer wird.
Zweitens wird uns von der Werbung tagein, tagaus suggeriert, dass es eine perfekte Wirklichkeit gebe. Eine Wirklichkeit, die für jeden erreichbar sei. Dabei blendet die Werbung die grundlegende menschliche Existenzbedingung aus, die bei jeder Entscheidung mitläuft. Ich weiß nicht, ob eine andere Entscheidung vielleicht zu einer ‚besseren‘ Wirklichkeit geführt hätte. Im Beispiel des Hosenkaufes waren das die Überlegungen, die ich unserer jungen Shopperin in den Mund gelegt habe, indem ich sie sagen ließ: „Was, wenn ich auf dem Nachhauseweg eine bessere Hose finde …“ etc. Werbung blendet diese grundlegende Schwierigkeit der menschlichen Existenz ganz bewusst aus. Es sollte dabei klar sein, dass die beste aller Möglichkeiten in der Werbung immer die ist, die mit dem eigenen Produkt verknüpft ist. Um dieses Produkt herum wird dann ein Bild einer Wirklichkeit konstruiert, welches durch unzählige Wiederholungen Teil unserer Vorstellungswelt wird – ob wir das nun wollen oder nicht.
Man denke nur an die gut aussehende, entspannte Mutter (die jede Mutter gerne wäre) in der sonnendurchfluteten Küche im Eigenheim (welches sich nur wenige Menschen leisten können), die freudig ihren drei Kindern (die nicht mehr viele haben können) eine Milchschnitte gibt. Alles, während ihr gut aussehender Mann (der jeder gerne wäre) gut gelaunt und mit strahlendem Lächeln von der Arbeit kommt (was die meisten gerne täten, aber nicht schaffen), die Kinder liebevoll begrüßt und die Frau lustvoll küsst und umarmt (was wohl eher die Ausnahme sein dürfte, nach einem harten Arbeitstag). Dieses Bild, das eine vollkommen unrealistische Wirklichkeit zeigt, sowie unzählige andere aus sonstigen Werbungen sind durch mannigfaltige Wiederholung gleichsam der Referenzwert für Wirklichkeit geworden. Es ist der Korb, der unendlich hoch hängt und an dem sich die Wirklichkeit, in der wir leben, messen muss. Zu allem Überfluss ist das auch noch ein Mechanismus, der im Unbewussten der Menschen abläuft. Denn Werbung wirkt genau dort. Es ist kein Zufall, dass die moderne Werbung von einem Neffen von Sigmund Freud, nämlich Edward Bernays, erfunden wurde. Bernays entwickelte Methoden, um die von seinem Onkel entwickelte Theorie der menschlichen Psyche (die Theorie der Psychoanalyse) zur gezielten Beeinflussung von Menschen zu nutzen. Ziel dieser Beeinflussung war schlicht und ergreifend, mehr Konsum anzuregen, sprich steinreich zu werden – was Bernays übrigens auch wurde [2]. Der Effekt heute, rund 100 Jahre nach der Erfindung der modernen Werbung, ist der, dass wir alle in den meisten Situationen ein Bild in unseren Köpfen haben, wie etwas auszusehen, zu schmecken, zu wirken, zu sein hat. Im engeren Sinne meist, wie wir zu sein haben. Da dieses Bild aus der Werbung so gut wie nie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sind wir von dieser Wirklichkeit regelmäßig enttäuscht.
Fassen wir den Gedankengang noch einmal zusammen: Auf der einen Seite explodieren um uns herum die Informationen über die Welt. Als begrenzte Wesen sind wir andauernd überfordert und wissen nicht, wie wir all die Möglichkeiten überschauen sollen. Auf der anderen Seite sind wir durch Werbung gezielt dahingehend manipuliert worden zu glauben, es gebe eine perfekte Wirklichkeit. In jeder Situation haben wir ein Bild dieser perfekten Wirklichkeit vor Augen. Dieses Bild einer perfekten Wirklichkeit steht der unermesslichen Unendlichkeit an möglichen Wirklichkeiten gegenüber, von denen wir nur eine wählen können. Der Druck steigt also ins Unermessliche. Jede Entscheidung wird plötzlich zu der Entscheidung. Jede Wirklichkeit wird dagegen zur falschen Wirklichkeit, weil sie nicht unseren durch Werbung erzeugten, falschen Erwartungen entspricht. Wir stecken also, wie ich oben schrieb, in einem Dilemma.
[2] Ich empfehle die brillante Dokumentation von Adam Curtis ‚The Century of the Self‘.
Sei nicht Enttäuscht, sei Entscheidungslos!
Durch die beschriebene Zwickmühle aus falscher Erwartung an die eine perfekte Wirklichkeit und schmerzvoller Bewusstwerdung der unermesslichen Möglichkeiten sind wir einer andauernden Enttäuschung ausgesetzt. Da wir Menschen aber eine unglaublich adaptive Spezies sind, suchen wir ganz automatisch nach Wegen, dieser andauernden Enttäuschung zu entkommen. Die Lösung, die wir dabei finden, ist – viele ahnen es bereits – die Entscheidungslosigkeit. Wir versuchen, der Zwickmühle zu entgehen, indem wir die Entscheidungen zurückweisen. Auf diese Weise müssen wir nicht das Eintreten einer unperfekten Wirklichkeit erleben. Wir vermeiden die Enttäuschung des Realitätsabgleiches unserer Erwartung auf die perfekte Wirklichkeit mit der Wirklichkeit einer unperfekten Wirklichkeit. Auf den ersten Blick ist das eine wirklich geniale Auflösung des Problems. Wir befinden uns, bewusst oder unbewusst, in einer Situation, der wir nach keiner Seite entkommen können. Auf der einen Seite können wir nicht die Möglichkeiten reduzieren und auf der anderen Seite können wir nicht die Manipulation der Werbung rückgängig machen, die von Kindesbeinen an auf uns eingewirkt hat. Das Einzige, das wir beeinflussen können, ist unser Handeln im Sinne von Entscheiden. Also entscheiden wir, nicht zu entscheiden. Schon in dieser Formulierung sollte aber klar geworden sein, dass diese ‚Lösung‘ in Wirklichkeit eine Scheinlösung ist. Indem wir scheinbar nicht entscheiden, entkommen wir der Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil, wir entscheiden uns, nicht zu entscheiden, und so wirken meist andere Faktoren auf uns, die eine Entscheidung erzwingen. Im Falle des Hosenkaufes wäre das z. B. die Aussage der Verkäuferin, dass die Hose nur 24 Stunden zurückgelegt werden kann. Die Entscheidung wird also erzwungenermaßen nur verzögert. Wenn unsere junge Hosenkäuferin sich entscheidet, nicht zu entscheiden, wird sie wissen, die Hose geht nun wieder in den Verkauf und es besteht die Möglichkeit, (1) sie entweder nicht zu kaufen – was einem Abbruch des Entscheidungsprozesses gleichkommt, (2) die Hose erneut anzuprobieren und zurücklegen zu lassen – hier befinden wir uns in einem potenziell unendlichen Wiederholungszyklus – oder (3) sie direkt zu kaufen – was die exakt gleiche Situation ist wie davor. Wir können also sehen, dass die Entscheidungslosigkeit keine Option ist, dem Dilemma zu entkommen. Im besten Falle verzögert sie die Entscheidung, was uns dann allerdings wieder Zeit für andere Entscheidungen raubt. Was also ist die Lösung?
Ich habe sehr bewusst das Wort ‚Dilemma‘ gewählt, welches darauf hindeutet, dass es keine vollständige Auflösung des Problems gibt. Wenn es stimmt, dass wir von der einen Seite durch Werbung mit der Erwartung einer perfekten Wirklichkeit indoktriniert sind und von der anderen Seite mit der Erkenntnis unendlicher Möglichkeiten durch Informationsexplosion, dann scheint es keinen Ausweg zu geben. Tatsächlich glaube ich aber, dass die Situation nicht ganz so endgültig ist, wie sie sich aus dieser philosophischen Sicht darstellt. Wechselt man in der Argumentation von einer philosophischen auf eine therapeutische Ebene, so zeigt sich, das Dilemma ist mehr eine Problemlage, die nach einer Seite hin offener ist als nach der anderen. Das exponentielle Wachstum von Informationen können wir nur sehr begrenzt beeinflussen. Dieser Prozess ist gesamtgesellschaftlich und passiert weltweit. Selbst wenn wir versuchen auszusteigen, unsere Smartphones abzuschaffen, uns aus den sog. ‚sozialen Netzwerken‘ abzumelden und in eine ländlichere Gegend zu ziehen, werden wir diesen Prozess nicht so einfach ausblenden können. Der Ausstieg aus einer technologischen Transformation bedeutet immer auch den Ausstieg aus der Gesellschaft. Ein solcher erscheint mir für die meisten nicht sonderlich erstrebenswert. Ausgenommen sind die Menschen, die anstreben, zu Eremiten zu werden – ein Dasein, das im christlichen Kontext eine lange und ehrwürdige Tradition hat. Da ich aber davon ausgehe, dass dies für die meisten Menschen nicht die erstrebenswerte Lösung ist, möchte ich einen anderen Ansatz wählen.
Wenden wir uns zur Erforschung dieses Ansatzes also der Seite der Erwartungen an die Wirklichkeit zu. Aus therapeutischer Sicht kann man hier sehen, dass die Situation nicht ganz so vertrackt ist, wie sie erschien. Die durch Werbung manipulierte Erwartungshaltung ist nicht in Stein gemeißelt. Sie kann behandelt werden. Ich spreche hier mit voller Absicht von ‚behandeln‘, da ich davon überzeugt bin, nur ein therapeutischer Kontext kann Abhilfe schaffen. Dabei ist es ganz gleich, ob das ein selbsttherapeutischer Kontext durch Lektüre und Bewusstwerdung, ein Prozess mit einem geschulten Therapeuten, Heilfasten, eine Wanderung auf dem Jakobsweg oder Ähnliches ist. Die Ansätze sind hier so vielfältig wie die Menschen selbst. Entscheidend ist immer die Annahme der Erkenntnis, dass ein Einfluss negative Folgen hat und sich diese in unsere Denk- und Verhaltensweise eingeschrieben haben. Darüber hinaus die Bereitschaft, diesen Einflüssen nachzuforschen und die negativen Folgen zu beseitigen.
Dies geschieht dadurch, dass wir versuchen, die Erwartungen an die Wirklichkeit zu de-konstruieren. Betrachtet man die aktuell aufkommenden Subkulturen, so wird schnell klar, dass es schon mannigfaltige solcher therapeutischer Bewegungen gibt: Die sog. ‚Digital Nomads‘ versuchen, die falsche Erwartungshaltung von Besitz und Häuslichkeit zu dekonstruieren, die NoFap-Bewegung versucht, die falschen Erwartungen an Sexualität zu dekonstruieren, Väter, die selbstverständlich Elternzeit nehmen, versuchen, ein falsches Bild von Männlichkeit zu dekonstruieren, die Me-Too-Bewegung versucht, ein falsches Bild weiblichen Opferseins zu dekonstruieren etc. Überall erkennt man die Bestrebungen der Menschen, die Manipulation der Massen zu durchbrechen. Dabei ist es gleich, ob wir diese Manipulation nun Werbung, Propaganda, Public Relations oder Unterhaltung nennen. Am Ende steht immer eine Wirklichkeitskonstruktion, die uns falsche Erwartungen aufzwingt.
Entscheiden heisst Leiden
Kehren wir noch einmal in das Kaufhaus zurück. Zur Hosenfrage. Die junge Dame kommt aus der Umkleide und betrachtet sich im Spiegel. Die Hose gefällt ihr und sie fühlt sich gut an. Der Preis stimmt, der Freund sagt „Sieht gut aus“. An dieser Stelle spricht ja eigentlich vieles dafür, die Hose zu kaufen. Nehmen wir nun an, die junge Dame ist sich bewusst über all die Zusammenhänge, die ich versucht habe darzustellen. Was ändert sich dadurch? Was sich nicht ändern wird, ist das Gefühl, unendlich viele andere Möglichkeiten zu haben. Jedoch kann sich der Drang, all diese Möglichkeiten auch wirklich überprüfen zu müssen, reduzieren. Dazu muss sich die junge Frau bewusst machen, dass es eine perfekte Wirklichkeit nicht gibt. Dass es durchaus möglich ist, dass sie in nächster Zeit eine Hose sieht, die ihr vielleicht besser steht. Das wäre dann aber eine ganz neue Entscheidungssituation, die auf die aktuelle nicht zwangsweise negativ einwirken muss. Mit der Erkenntnis, dass die Wirklichkeit notwendigerweise von der Erwartung abweicht, da diese Erwartung unrealistisch befeuert wurde, ist es die kluge Entscheidung, in Kauf zu nehmen, dass der Kauf der Hose (oder jede andere Entscheidung für eine Wirklichkeit) sowohl Freude als auch Enttäuschung nach sich ziehen kann. Diese Erkenntnis ist etwas, was sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Es ist etwas, was viele Menschen nicht sehen und erkennen können oder wollen. Dennoch ist es die existenzielle Beschaffenheit des menschlichen Wesens: Was immer wir tun, wir werden zu einem gewissen Grade enttäuscht sein. Eine Wahrheit übrigens, die der Buddhismus zum zentralen Dreh- und Angelpunkt seiner Religion gemacht hat. Ist es doch so, dass Leben dort Leiden bedeutet, der Ursprung dieses Leidens Begehren ist und dieses Leid nur durch das Aufgeben des Begehrens überwunden werden kann. Das Begehren und das Leid sind hier nichts anderes als die Erwartung und die Enttäuschung, über die ich in diesem Essay gesprochen habe. Man muss also kein Buddhist sein, um diesen Zusammenhang zu erkennen und zu lernen, mit ihm umzugehen.
Wichtig ist alleine, zu erkennen: Die Enttäuschung über die Wirklichkeit kann nicht vollständig überwunden werden. Die Aufgabe ist es, den oben genannten ‚gewissen Grad‘ der Enttäuschung zu reduzieren. Das ist ein langer Weg der Dekonstruktion der Erwartungen. Ich für meinen Teil habe dazu übrigens Werbungen aus meiner Kindheit angeschaut. Werbungen von Produkten, die ich früher unbedingt haben wollte. Ich habe mir mit meinem erwachsenen Bewusstsein klargemacht, welche tiefen Bedürfnisse (angenommen sein, geliebt sein, bestätigt sein, zugehörig sein, beliebt sein) in meinem kindlichen Ich angesprochen und manipuliert wurden. Durch diesen Prozess habe ich Stück für Stück diese Erwartungen rück-gebaut – übrigens all das, während mein inneres Kind bitterlich enttäuscht war.
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